Kommentar

Das authentische Ich

von

Ein starker Inhalt

Es betrifft viele: Angelina Jolie, Julia Pennigsdorf, Leserinnen, deren Freundinnnen, Schwestern oder Mütter. Das Thema Brustkrebs-Risiko bringt die Relevanz schon mit. Es geht um Leben und Tod. Darum, dass Menschen verletzlich sind. Und hier auch um die biblische Frage: Was wollen wir wissen? Wollen wir essen vom Baum der Erkenntnis?

Heldin, Ort und Handlung

Julia Pennigsdorf, die Autorin, ist die Hauptperson und erzählt in der Ich-Perspektive. Zur Lokalgeschichte wird das Angelina-Thema in der Universitätsklinik Hannover, in der tumorgenetischen Beratung des Zentrums „Erblicher Brust- und Eierstockkrebs“. Hier  verschafft sich die Protagonistin Klarheit über ihr Brustkrebs-Risiko und trifft ihre Entscheidung, wie sie damit umgehen will. Ihr Ziel: Sie will ihre Lebensfreude bewahren, Risiko hin oder her.

Das „Ich“

Das erwartet man nicht im Lokalteil einer Regionalzeitung: Ein „Ich“, das unvermittelt und schnörkellos existenzielle Erfahrungen preisgibt. Im Lead ist noch von „man“ die Rede: „Wie geht man damit um, wenn ...“. Der Einstieg ist dann gerade heraus: „Als meine Mutter an Brustkrebs erkrankte, war sie so alt, wie ich heute“. Die Form überrascht, und sie überzeugt sofort. Da ist nichts künstlich, nichts gewollt.

Anfang, Mitte und Ende

„,... war sie so alt, wie ich heute“. Gleich mit dem ersten Satz vermittelt die Autorin ihre Frage, ihren Konflikt, ohne ihn auszusprechen. Stattdessen fragt sich nun der Leser: Was ist mit ihr? Wird auch sie Brustkrebs kriegen? Diese Fährte ist schon im Lead gelegt. Es geht um Gene und Erbgut, um den Verlust der liebsten Menschen.

Der Bogen des Textes spannt sich über vier Generationen. Im ersten Absatz porträtiert die Autorin ihre Mutter. Im zweiten und dritten Absatz erleben wir sie als Patientin bei der Vorsorge-Prozedur im Krankenhaus, sie erzählt im Präsens. Eine Rückblende im vierten Absatz erzählt vom Sterben der Mutter. Eine weitere lange Rückblende (fünfter  bis neunter Absatz) beschreibt die tumorgenetische Beratung in der Klinik sowie ein Gespräch mit der Ärztin inklusive Blutuntersuchung des Großvaters. Im letzten Absatz – wieder in der Gegenwart – beschreibt die Autorin noch einmal das Tableau der vier Generationen. Eine Illustration von Brigitte Seibold veranschaulicht das Beschriebene.

Jutta Pennigsdorf schließt den Bogen mit einem Gedankenspiel: Wie wäre es wohl gewesen, wenn die Großmutter ihren Enkel hätte aufwachsen sehen können? Der Sohn Tim, der für die Zukunft steht, hat (fast) das letzte Wort. Er  überlegt, was der Tod seiner Oma für die Mutter wohl bedeutet haben mag. Genau das hat Julia Pennigsdorf ihren Lesern ganz am Anfang mitgeteilt. Und die Leser haben vielleicht noch eine weitere  Linie über die Generationen hinweg mitbekommen: Es ist offenbar der Oma, der Mutter und dem Enkel gegeben, das Glas halbvoll zu sehen.

Kontraste und Wechselbäder

Julia Pennigsdorf setzt Kontraste. Auf  die Trauer um die Mutter folgt das Genervtsein an der roten Ampel. Angst hat sie nicht,  steinalt will sie werden (in Absatz zwei), doch wenige Sätze später schlägt der Optimismus um in Angst und Grübelei. Das mutige „Ich“ wird  für Momente ängstlich, trifft dann aber eine beherzte Entscheidung. Die Kontraste schaffen Spannung. Die Wechselbäder laden die Leser ein, mitzufühlen und sich in einzelnen Szenen wiederzuerkennen. Die Protagonistin wächst einem ans Herz. (Eine Erzählerin muss wissen: Das Publikum liebt Heldinnen und Helden, die Schwäche zeigen. Supermenschen mag es nicht.)

Die Tonalität

Fast ist es, als ob eine Freundin erzählt. Eine Atmosphäre des Anvertrauens, in der Platz ist für Erinnerung, für Trauer, für Alltägliches. Eine Atmosphäre, in der man auch Aussparungen taktvoll akzeptiert. Es bleiben ja auch Fragen offen. Warum eigentlich ist sofort klar, dass das „Ich“ keine Gendiagnostik möchte, anders als Angelina Jolie? Was hätte ein positiver Befund beim Gentest des  Großvaters bedeutet? Warum wird die ebenfalls noch lebende Großmutter nicht getestet?

Foto und Bildunterschrift

Offenbar ein Urlaubsbild: Da ist Schwung und Lebensfreude. Eine junge, schöne Frau küsst und umarmt ihren Sohn. Sie ist nur undeutlich zu sehen, weil ihr der Wind die Haare ins Gesicht bläst. Man spürt ihre Zärtlichkeit und Fürsorge in der Geste. Der Fotograf ist Lars Pennigsdorf.

Das Bild passt wunderbar zum Text. Da ist ein „Ich“, das viel von sich zeigt, dem es aber nicht um Selbstdarstellung geht. Die Bildunterschrift – „Tim, hier mit seiner Mutter, hat seine Oma nie kennengelernt. Sie starb vor beinahe zehn Jahren“ – führt direkt in die Geschichte, die mit der Großmutter einsteigt. Und sie verweist auf die Generationenfolge Oma-Mutter-Tim, die dem Text seine Struktur gibt.

Wann darf man „ich“ sagen?

Ein Wirtschaftsredakteur der Berliner Morgenpost erfindet eine Erbschaft über 50.000 Euro und fragt fünf Bank-Berater, wie er sie am besten anlegen soll. Er schreibt als „Ich“. In der Serie „Rollentausch“ der Nordwest-Zeitung schreibt ein Reporter-Ich über seine Erfahrung als Co-Pilot des zweiten Siegers der Deutschen Rallye-Meisterschaften. Beides sind Selbstversuche im Modus „als ob“. Kann man machen.

Das „Ich“ im Text von Julia Pennigsdorf ist ein authentisches Ich, im Gegensatz zum inszenierten. Sie nimmt die Bedrohung nicht zur Probe auf sich. Mit dem Brustkrebs-Risiko umzugehen ist ihr aufgeben. Das „Ich“ ist die stimmige und glaubwürdige Form, von ihren Erfahrungen zu berichten. Zunächst hat sie sich damit schwer getan. Und plötzlich flutschte es nur so. Davon erzählt sie im „Making of“.

Der Fall Angelina Jolie

Am 14. Mai meldeten die Agenturen, dass die Schauspielerin Angelina Jolie sich in Los Angeles beide Brüste hat amputieren und rekonstruieren lassen. Es wurde berichtet, dass Jolies Mutter mit 57 Jahren an den Folgen einer Brustkrebs-Erkrankung starb. Und dass ein Gentest der Tochter Angelina ein defektes Brustkrebs-Gen attestierte. Damit betrug die Wahrscheinlichkeit, dass Jolie im Lauf ihres Lebens ebenfalls an Brustkrebs erkrankt wäre, 87 Prozent. Die Schauspielerin entschloss sich deshalb im Alter von 37 Jahren zur präventiven Entfernung ihrer Brüste.

Am 25. Mai bringt die HAZ ihre Geschichte. Sie nimmt an keiner Stelle Bezug zu Angelina Jolie. Das ist auch nicht nötig. Wer Medien verfolgt, hat die spektakuläre Meldung noch im Kopf.

Zum Making-of

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Zum Werkraum Storytelling der ABZV

Autorin

Marie Lampert arbeitet selbständig u. a. für die ABZV als Dozentin, Seminarleiterin und Redakteurin. Sie betreut den Werkraum Storytelling der ABZV. Im Jahr 2012 erschien ihr Lehrbuch „Storytelling für Journalisten“ in zweiter Auflage (Co-Autor: Rolf Wespe). www.marielampert.de

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