Dem Leiden ein Gesicht geben
von Katharina Dodel
Eine oftmals tabuisierte Krankheit: Depressionen. In einem gemeinsamen Schwerpunkt der Neuen Westfälischen und von Radio Hochstift kommen Betroffene selbst zu Wort.
Angelina ist 28 Jahre alt, Albin 71 und Katharina 22. Benedikt war Marktmeister, sein Job waren Feste und gute Laune. André steht als Comedian auf der Bühne, um andere zum Lachen zu bringen. Sie alle eint eine Sache: Im gemeinsamenn Themenschwerpunkt der Lokalredaktion Paderborn der Neuen Westfälischen und Radio Hochstift sind sie die Protagonisten. Denn sie alle haben Depressionen. 48 Menschen zeigten ihr Gesicht unter der Überschrift „Wir haben Depressionen“. In Hörbeiträgen, Videos, auf Print-Sonderseiten und Online-Artikeln wurde in dem Schwerpunkt über Depressionen aufgeklärt. Fünf Redakteurinnen und Redakteure recherchierten dafür.
Es begann mit einem zufälligen Treffen
Auf die Idee zum Thema kam Radioredakteur Tobias Fenneker. „Bundesweit wird ja immer wieder darüber gesprochen, und auch im Freundes- und Bekanntenkreis habe ich mich mit Leuten unterhalten, die betroffen sind. Diesen Menschen wollte ich eine Stimme geben, weil ich das Gefühl habe, dass das Thema in der Region stark tabuisiert wird“, sagt er. Mit seiner Idee wandte er sich an Mareike Gröneweg, Redakteurin der Neuen Westfälischen. Den letzten Anstoß, darüber zu berichten, gab ein entfernter Bekannter, den Fenneker zufällig wieder getroffen hatte. Dieser erzählte ihm von seiner schweren Depression. „Das hat mich verblüfft, weil bei ihm deutlich wurde, wie das häufig bei Depressionen ist: Niemand hatte von ihm gedacht, dass er an so einer Krankheit leidet. Er ist derjenige, der immer gut drauf ist und auf jede Party geht.“ Fenneker fragte ihn direkt, ob er für ein Videointerview zur Verfügung stehen würde. Dieses Interview eröffnete den Themenschwerpunkt und weitere Möglichkeiten.
Suche nach Teilnehmern
Aufgrund dieses ersten Gesprächs war die Hürde für andere Menschen, sich zu öffnen, niedriger, erzählt Fenneker, der auch andere Menschen aus seinem persönlichen Umfeld anschrieb. Neben dem eigenen Umfeld gab es noch zwei weitere Stellen, über die die Redakteurinnen und Redakteure an Betroffene kamen: Online betteten Radiosender und Redaktion ein Formular ein, über das sich Menschen mit Depressionen melden konnten. Darüber meldeten sich etwa 15 bis 20 Personen, sagt Fenneker. Weitere Gesprächspartner fanden die Redakteurinnen Lena Henning und Gröneweg über Selbsthilfegruppen in der Region. „Das war eine tolle Plattform. Weil man dort in Ruhe das Projekt vorstellen konnte. Das hat viele Ängste abgebaut, denn es ist schon ein riesiger Schritt, mit Bild in der Zeitung zu sein und seine persönlichste Geschichte zu erzählen“, sagt Gröneweg. Im Zentrum stand, der Krankheit ein Gesicht zu geben, anonymisierte Erzählungen oder Artikel ohne Bild gab es nicht.
Absprachen
Öffentlichkeit stellten die Redaktionen dadurch her, dass sie an den zwei Tagen, an denen der Themenschwerpunkt lief, in verschiedenen Formaten und auf unterschiedlichen Plattformen darüber berichteten: Video, Radio, Instagram, Facebook, Print, Online. Um die Recherche und die Veröffentlichung zu koordinieren, trafen sich die fünf Redakteurinnen und Redakteure im Dezember 2022 für Meetings und verteilten die Themen. Im Team waren neben Fenneker und Gröneweg Lena Henning (Neue Westfälische, Lokalredaktion Paderborn), Sinah Jakobsmeyer (Radio Hochstift) und Svenja Ludwig (Neue Westfälische, Lokalredaktion Höxter).
Beispielsweise gab es eine Person, die sich darum kümmerte, Betroffene zu finden, eine andere arbeitete Zahlen und Fakten auf und sprach mit der Kassenärztlichen Vereinigung. Digital legte die Recherchegruppe eine geschützte Datei an, in der alle geplanten Beiträge und Namen der Betroffenen aufgelistet wurden, damit es keine Doppelungen gab. Gleich zu Beginn legte das Team ein Datum für die Veröffentlichung fest. „Wir gaben uns drei Monate. So hatten wir Zeit zu recherchieren, gaben dem Thema aber auch eine gewisse Priorität, damit man es nicht vor sich herschiebt. Das war wichtig, denn im Redaktionsalltag kann das passieren, wenn man es nur neben der täglichen Arbeit machen kann“, sagt Gröneweg.
Zusammenarbeit
„Uns war wichtig, dass wir die Stärken des jeweiligen Mediums nutzen“, sagt Gröneweg. „Im Radio lassen sich ganz stark Emotionen vermitteln. In der Zeitung Hintergründiges.“ So sind die Redakteurin und der Redakteur gemeinsam zu Terminen gegangen, um mit einer Person Hörbeiträge zu machen und ein längeres Porträt für die Zeitung. Die Audiodateien wurden an manchen Stellen auf der Website der Neuen Westfälischen integriert. Insgesamt wurden während der Aktion online zehn Elemente veröffentlicht, in Print neun, inklusive einer großen Doppelseite mit allen Gesichtern.
Fazit und Reaktionen
„Wir haben unglaublich viele Reaktionen bekommen“, sagt Fenneker, der sich am Tag der Veröffentlichung eine Ausgabe der Neuen Westfälischen kaufen wollte und vor leeren Regalen stand. „Es kann natürlich Zufall sein, aber an diesem Morgen war es schwierig, eine Ausgabe zu bekommen.“ Gröneweg führt das und das gute Feedback auf die Kooperation zurück. „Ein Thema bekommt eine andere Tiefe, wenn man sich in dieser Form zusammentut und auf vielen Kanälen berichtet“, sagt sie. „Man liest die Zeitung, erfährt von einer Betroffenen und ihrem Krankheitsverlauf, von ihrem Alltag und ihren Panikattacken. Dann sitzt man im Auto, hat das Radio laufen und hört genau diese Frau erzählen. Das hat eine ganz andere Wirkung und kommt viel tiefer bei den Leuten an.“
Highlights der Zusammenarbeit
Ein Beitrag ist Gröneweg besonders im Gedächtnis geblieben: Eine freie Mitarbeiterin des Radios verfasste einen Brief an ihren depressiven Vater. Diesen Brief las sie im Radio vor, in der Zeitung wurde er abgedruckt. Online wurde das vertonte Stück eingebunden. „Wir konnten wunderbar Inhalte tauschen oder weitergeben“, ergänzt Fenneker. Auch das Video mit dem ersten Gesprächspartner wurde mit jeweiligem Logo auf beiden Online-Seiten eingebaut. „Das Ziel war, nicht doppelt und aneinander vorbeizuarbeiten, sondern sich abzusprechen und auszutauschen. Das ist uns gut gelungen.“ Fenneker und Gröneweg hoffen, dass das nicht die einzige Kooperation bleibt: „Wir hoffen, dass wir sämtliche Chefredakteurinnen und Chefredakteure damit überzeugt haben, dass so eine Kooperation funktioniert“, sagt der Moderator. Themen jedenfalls haben die beiden Redakteure schon gesammelt.
Text: Katharina Dodel
Der Beitrag erschien zuerst in der Ausgabe 5/2023 der drehscheibe.
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