Journalisten als Schatzsucher
von Stefan Wirner
Viele Veranstaltungen fallen derzeit wegen der Corona-Pandemie aus, persönliche Begegnungen werden weniger. Abstand halten muss aber nicht heißen, den Kontakt zu verlieren! In loser Folge spricht die drehscheibe mit Chefredakteurinnen und Chefredakteuren, Redaktionsleiterinnen und -leitern über die Erfahrungen mit dem Lockdown und über die Erkenntnisse, die sie mitnehmen in die Zukunft. Heute mit Christoph Linne, Chefredakteur der Nordsee-Zeitung aus Bremerhaven.
Christoph Linne berichtet von einem „enormen, kreativen Schub“, den die Redaktion durch die Pandemie und die damit verbundenen Umstellungen im redaktionellen und organisatorischen Bereich erfahren habe. „Alle sind extrem motiviert, der Teamspirit ist außerordentlich“, sagt Linne.
Neue Teams im Lockdown
Als der Lockdown Mitte März begann, sei man nicht nur ins Home Office umgezogen, nein, man habe auch die Redaktion umstrukturiert und zwei völlig neue Teams gebildet. Das erste kümmert sich ausschließlich um die Pandemie lokal und regional und hat hierfür ein Netz an externen Experten aufgebaut. Das zweite übernimmt die lokale Berichterstattung jenseits von Corona. „Das Interessante daran ist: Es handelt sich eher um Themen-Teams, die aus allen Ressorts neu zusammengestellt sind“, sagt Linne. „Und das Tolle ist: Es funktioniert!“
Man sei „selbstbewusster und selbstbestimmter“ in der Schwerpunktsetzung geworden, das Blatt sei „akzentuierter“. Der klare Fokus liege auf Corona und den Folgen, „aber eben nicht nur, sonst erschlagen wir unser Leserinnen und Leser mit schwermütigen Stoffen“, betont Linne. „Wir sind diesen Schritt raus aus den gewohnten Wegen gegangen, und viele haben das Gefühl: Deswegen haben wir doch einmal diesen Beruf ergriffen!“
Norddeutsche Leuchttürme in stürmischer Zeit
In dieser neuen Teamarbeit wurden ungewöhnliche Projekte verwirklicht. Etwa eine tägliche Service-Seite mit wechselnden Erklärgrafiken. Eine mehrsprachige Informationsbroschüre rund um Corona. Und um auch fremdsprachige Mitbürgerinnen und Mitbürger über die Lage aufzuklären, hat die Nordsee-Zeitung einen Sonderdruck angefertigt. Einem kostenlosen Wochenblatt des Verlags lagen im März sechs Sonderseiten bei, auf denen in Deutsch und in zwölf weiteren Sprachen alle relevanten Fakten zur Ausbreitung und Bekämpfung des Virus erklärt wurden. (Hierzu ein Bericht der drehscheibe).
Außerdem wurde beispielsweise eine Gutschein-Plattform aufgebaut. „Der Hintergedanke war, dass wir in dieser komplizierten Zeit dem regionalen Handwerk, dem Handel und der Gastronomie helfen wollten“, sagt Linne. Heimatpräsent.de nennt sich das Portal. Die Grundidee ist einfach: Leute erwerben über das Portal einen Gutschein, das Geld steht den jeweiligen Unternehmen innerhalb weniger Tage zur Verfügung, die Käufer lösen den Gutschein aber erst später, wenn sich die Lage normalisiert hat, ein. „Der Erfolg ist riesig“, sagt Linne. „Nach drei Tagen waren es bereits 150 Händler, die mitmachten. Inzwischen sind es 450 Unternehmen mit einem Umsatz von 130.000 Euro.“ Das sind nur drei Beispiele aus der jüngsten Arbeit der Nordsee-Zeitung – kreativ in Zeiten von Corona.
Ab in die Zukunft
Dann erzählt Linne eine Anekdote: In einer Konferenz habe ein Mitarbeiter gefragt, wann man wieder zurückkehre zur Normalität und wieder so arbeite wie früher. Linnes Antwort: Nie. „Wir stellen nicht mehr um auf früher“, sagt Linne. „Ganz im Gegenteil: Wir wollen die Zeit und unsere jetzigen Erfahrungen nutzen, um alles auf den Prüfstand zu stellen: Was wird uns in Zukunft tragen? Der Terminjournalismus? Die Vereinsberichterstattung? Oder doch eher eine selbstbestimmtere und akzentuiertere Berichterstattung? Was hat uns zu viel Zeit gekostet, gelähmt oder träge gemacht? Was bringt uns im Moment nach vor? Diese Fragen wolle man sich beantworten und dann Schlüsse daraus ziehen.
Mit der neuen, Corona-bedingten Arbeitsweise zeige sich eine „gestiegene Eigenverantwortung“ der Mitarbeiter, ein „hohes Maß an Selbstorganisation“. „Das wollen wir unbedingt aufrechterhalten“, betont Linne. Klar, es gebe mehr Abstimmungsbedarf, mehr Briefings wegen Home Office und Kurzarbeit, aber es sei toll zu sehen, dass es funktioniere. „Ich bin stolz auf die Leistung des Redaktionsteams“, sagt der Chefredakteur.
Inhaltlich wolle man die jetzigen Schwerpunkte auch später nicht aus den Augen verlieren. Linne nennt etwa Digitalisierung, Erziehung, Bildung und auf Nutzwert ausgerichtete Themen. „Wir lernen aus den Online-Zahlen, dass die Leserinnen und Leser diese Themen stark interessieren, wir werden sie weiter behandeln.“
Journalisten als Schatzsucher
„Wir sollten uns nicht mit dem Buddeln an der Oberfläche begnügen“, betont Linne. „Wir müssen tiefer schürfen, Journalisten müssen Schatzsucher sein“, sagt er. Das werde auch von der Leserschaft honoriert. Mut machten ihm dieser Tage die überwiegend positiven Rückmeldungen der Menschen, die sich für das Durchhaltevermögen und den Ideenreichtum bedankten, mit dem die Nordsee-Zeitung den gesellschaftlichen Herausforderungen begegnet. „Eine Leserin brachte es in einer E-Mail auf den Punkt“, erzählt Linne. „Obwohl die Zeitung im Moment etwas dünner sei, brauche sie viel länger, um alles zu lesen. Und sie lese auch alles. Ein schöneres Kompliment konnte sie uns nicht machen“.
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