Polyperspektiven für den Journalismus
von Nina Sabo
Von intimen Geständnissen über mentale Gesundheit bis hin zu empowernden Verkündigungen für einen Journalismus der Zukunft – um all das und noch vieles mehr ging es auf dem b*future-Festival Anfang September in Bonn. Veranstalter war das Bonn Institut.
Das Festival für Journalismus und konstruktiven Dialog, übrigens das erste seiner Art in Europa, hat rund 500 Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt zusammengebracht, um über eine brennende Frage zu sprechen: Wie kann sich der Journalismus wandeln, um kritisch, konstruktiv und gleichzeitig auf die Bedürfnisse der unterschiedlichen Menschen in unserer Gesellschaft ausgerichtet zu sein? Diese Leitfrage zog sich durch alle Workshops und Seminare des zweitätigen Festivals. Die drehscheibe-Redaktion war dabei und blickt auf zwei Veranstaltungen zurück, die vor allem für Lokalredaktionen interessant waren.
Mentale Gesundheit und lokale Berichterstattung
In einer Sache waren sich die internationalen Sprecherinnen und Sprecher der Veranstaltung „Mental Health: How to stay sane in the news business“ an einig: Über das Thema psychische Gesundheit wird in Redaktion bislang viel zu selten gesprochen. Einigkeit herrschte auch darüber, dass körperliche Leiden noch immer ernster genommen werden als mentale Herausforderungen und Krisen: Man meldet sich lieber im klassischen Sinne krank, als zuzugeben, dass man sich ausgebrannt fühlt oder gerade in einer depressiven Phase stecke.
Wie kann mentale Gesundheit und journalistische Tätigkeit also miteinander in Einklang gebracht werden? Darüber tauschten sich Lea Thies von der Augsburger Allgemeinen, Chiponda Chimbelu von der Deutschen Welle, Irene Castelli vom Dart Center for Journalism and Trauma und Hannah Storm, Medienberaterin für Sicherheit und psychische Gesundheit im Journalismus, aus.
„Als Reporterinnen und Reporter im Lokalen sind wir häufig sehr nah am Geschehen dran“, sagte Thies. „Unmittelbar nach der Polizei an einem Unfallort zu erscheinen, an dem Menschen gestorben sind, oder von einem Gerichtsprozess über schwere Gewalthandlungen zu berichten – das löst natürlich etwas aus.“ Hinzu kämen neue Dimensionen der Gewalt, die sich in den sozialen Medien abspielen: „Während der Pandemie wurde das Feedback auf unsere Arbeit mehr und vor allem härter. Die Tonalität in den Kommentarspalten veränderte sich, Hassrede und Hetze kamen immer häufiger vor“, berichtete Thies.
„Gerade für den lokaljournalistischen Nachwuchs brauchen wir einen Plan, um vorzubeugen, dass Hass und Hetze bis zur Psyche durchdringen.“
Und dann sind da noch die Folgen der Corona-Pandemie, unter der viele Menschen auch psychisch gelitten haben. In einigen bayerischen Schulen geben daher Coaches Schülerinnen und Schülern Beratung in Sachen mentaler Gesundheit. Und was passiert, wenn die Kinder in die Arbeitswelt wechseln? Journalist oder Journalistin werden? Wer kümmert sich dann um die psychische Gesundheit? „Gerade für den lokaljournalistischen Nachwuchs brauchen wir einen Plan, um vorzubeugen, dass Hass und Hetze bis zur Psyche durchdringen. Unser Ziel sollte es sein, resiliente Journalistinnen und Journalisten ausbilden, die ihre Arbeit uneingeschränkt ausüben können – besonders in Krisenzeiten.“
Gesagt, getan: Thies erstellte als Leiterin der Günter Holland Journalistenschule der Augsburger Allgemeinen einen Fünf-Punkte-Plan zur Resilienzförderung von Nachwuchsjournalistinnen und -journalisten – und erhält nun finanzielle Unterstützung zur Umsetzung. Auf der Veranstaltung erklärte sie, was die fünf Säulen für Resilienzfähigkeit im Nachwuchs-Team bei der Augsburger Allgemeinen bedeuten und wie sie die Maßnahmen intern umgesetzt werden.
- Training zur Festigung: Die Volontärinnen und Volontäre werden mit Tipps und Tricks vertraut gemacht, wie sie besser auf ihre mentale Gesundheit achtgeben können, Symptome richtig zu deuten wissen und gegen Hassrede im Netz gewappnet sind.
- „Seismografen für Krisen“: Team-Mitglieder in den Redaktionen werden als Ersthelfende für psychische Gesundheit ausgebildet und stehen dem journalistischen Nachwuchs zur Seite. Sie lernen Krisen zu erkennen, anzusprechen oder auch vorzubeugen.
- Geschulte Führungskräfte: Sie arbeiten eng mit den „Seismographen“ zusammen, hören ihnen zu und finden Lösungen für Personen, die in einer Krise sind.
- Betriebsärztliche Unterstützung: Die interne Unterstützung tritt in der Funktion der Türöffner für schnelle und professionelle psychologische Hilfe auf.
- Anonyme Hilfsangebote: Sie sollen Menschen, zunächst digital und anonym, Anlaufstellen bieten, die nicht offen über ihre Belastungen sprechen möchte.
Thies fasst zusammen: Wichtig ist, dass in den Redaktionen mehr über die mentale Gesundheit gesprochen wird. Auch wenn zeitliche und finanzielle Ressourcen gerade im Lokalen rar sind, ist die Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit, eine der wichtigsten Kompetenzen, wenn es um den Journalismus der Zukunft geht – und damit auch eines der wesentlichen Argumente zur Sicherung der Demokratie: „Denn wenn Journalistinnen und Journalisten Angst haben, ihren Job auszuüben, wer berichtet dann über das, was draußen vor sich geht?“
Die Polyreportage: Neue Perspektiven spielerisch erschließen
Im Workshop zur Polyreportage von tactile.news, geleitet von Martin Tege und Jakob Vicari, wurde es spielerisch und ideenreich: Die beiden stellten nicht nur das neue Format der Polyreportage vor, sondern riefen auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst dazu auf, ihre Ideen für eine Polyreportage auszutauschen. Zunächst allerdings wurden zwei Fragen geklärt: Was steckt hinter dem Begriff Polyreportage? Und warum lohnt es sich, dieses Format auch im Lokalen auszuprobieren?
„Eine Polyreportage erzählt verschiedene Perspektiven gleichwertig aus und bildet sie audiovisuell ab“, erklärte Tege. „Sie ist als Audio-Erzählung in einem Webplayer abrufbar, und der Hörer oder die Hörerin kann frei wählen, aus wessen Perspektive die Reportage abgespielt werden soll.“ So können sich Interessierte beispielsweise durch den von tactile.news und Riffreporter entwickelten Prototypen „Katzen gegen Vögel“ klicken und jeweils eine der drei Perspektiven – Katze, Amsel und Elster – durchlaufen.
„Wer sich durchklickt, erhält einen neuen Blick auf einen Kampf um Leben und Tod (...) bei dem es keine Schuldigen gibt, sondern nur Beteiligte mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen.“
Wie der Titel des Prototypen erahnen lässt, kommt es auch zu Begegnungen der drei Akteure, deren Wege sich im Garten kreuzen. Die Texte selbst stammen von den Wissenschaftsjournalisten Sigrid März, Joachim Budde und Marcus Anhäuser, allesamt „Riffreporter“. Sie haben direkt im Low-Coding-Tool „Voiceflow“ gearbeitet, mit dem verzweigte Erzählungen wie diese produziert und abgebildet werden können. Damit die Polyreportage im Web abspielbar ist, hat das Team mit einer Förderung des WPK-Innovationsfonds Wissenschaftsjournalismus einen eigenen Polyplayer entwickelt.
Bei einer Polyreportage, wie sie von tactile.news vorgestellt wurde, handelt es sich also um nicht-lineares Storytelling, das HTML- und audiobasiert ist. Das Versprechen, das dabei gegeben wird: „Wer sich durchklickt, erhält einen neuen Blick auf einen Kampf um Leben und Tod (...) bei dem es keine Schuldigen gibt, sondern nur Beteiligte mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen.“
Lineare Texte in einer nicht-linearen Welt
Und warum das Ganze? Tege und Vicari sind überzeugt: Wenn sich die Technologien um uns herum verändern, dann müssen das auch die Erzählungen von Journalistinnen und Journalisten tun, um ihr Publikum zu erreichen. „Lineare Texte gibt es überall, aber unsere Welt ist komplex und wird immer komplexer“, sagt Tege. „Mit einer Polyreportage kann man Auszüge aus unserer Lebenswelt durchschaubarer machen, Gleichwertiges nebeneinanderstellen und Interessierte stärker einbinden, indem sie die Handlung spielend erschließen.“ Für das Team von tactile.news liegt darin der Anschluss an den konstruktiven Journalismus: Wer in andere Sichtweisen schlüpft, entwickelt mehr Verständnis füreinander.
Schließlich waren die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer selbst gefragt: Sie sollten sich ein Thema, zwei (oder mehr) Akteure und einen Ort für ihre eigene Polyreportage überlegen. Ob Virusinfektion, Taubendreck, Lärmbelästigung oder Initiativen gegen Schottergärten: Nahezu alle Ideen für Polyreportagen spiegelten Bürgernähe und -konflikte wider. Auf die abschließende Frage der Workshop-Leiter, ob sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vorstellen könnten, eine Polyreportage in ihrer Redaktion umzusetzen, wurde die Zeit als größtes Hindernis genannt. Andererseits teilten alle die Erkenntnis: Eine Polyreportage eigne sich besonders gut dafür, um gegensätzliche Perspektive nebeneinander zu stellen, sie zu veranschaulichen und vielleicht sogar miteinander zu versöhnen.
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