Schreiben, damit sich was ändert
von Nils Husmann
Stefan Aschauer ist Lokaljournalist aus Leidenschaft. Aber manchmal behält er auch was für sich – damit der Kitt, der die Menschen zusammenhält, nicht bröckelt. Von Nils Husmann
Der folgende Text erschien im Magazin Chrismon 11/2017. Text: Nils Husmann, Fotos im Originaltext: Jonas Ludwig Walter. Wir danken Chrismon für die Erlaubnis zur Zweitveröffentlichung.
Die E-Mail mit der Absage kam am Montagmorgen um kurz nach sieben. Der Landtagsabgeordnete Marco Voge ist krank geworden. Das Pressegespräch im Rathaus fällt aus. Vor Stefan Aschauer stehen vier Bildschirme. Er blickt auf den rechten, der ihm sein Postfach anzeigt, verschränkt die Hände über dem Kopf und streckt sich. Noch ist er allein in der Redaktion. Aber jeder Kollege, der den Chef dort so sitzen sähe, wüsste, was er gerade denkt: Einen guten Redakteur verlässt der liebe Gott nie. Es werden andere Geschichten kommen und die Lokalseiten füllen. Weil immer was passiert.
Stefan Aschauer, 55 Jahre alt, ist Chef vom Dienst und Lokalredakteur beim Süderländer Tageblatt in Plettenberg, Sauerland, Nordrhein-Westfalen. Er findet, dass es zwei Sorten von Journalisten gibt: Die einen planen sklavisch, was der Tag ihnen zu bringen habe. Die anderen gucken, was aus einer Spur wird, die sie aufgenommen haben. Er streift Kopfhörer über seine hohe Stirn und die kurzen dunklen Haare und sieht damit aus wie ein Pilot, weil vor seinem Mund ein Mikrofon hängt. Aschauers Finger trommeln auf der Schreibtischplatte, bis jemand abhebt. Mit fester Stimme sagt er: „Stefan Aschauer, Süderländer, Herr Wilmink, ich rufe an wegen der Bürgermeisterkette von Leipzig!“ Er hört eine Weile zu, dann unterbricht er. „Das interessiert mich alles sehr, aber bitte nicht am Telefon, ich würde Ihnen gern in die Augen sehen.“ Herr Wilmink sagt zu, will morgen um zehn Uhr kommen. Der Termin hilft der Redaktion aber nicht, den Lokalteil für Dienstag zu füllen.
Stefan Aschauer-Hundt im drehscheibe-Interview
Mittlerweile sind die Kollegen da, eine konzentrierte, ruhige Arbeitsatmosphäre erfüllt den Raum. Einer telefoniert, viele Finger klimpern auf Computertasten herum. Felicitas Hochstein sitzt an ihrem Schreibtisch gegenüber von Stefan Aschauer und seufzt: „So.“ – „Oh. Felicitas hat gesot“, sagt Stefan Aschauer. Er bastelt sich gern Worte zurecht. Wer „so“ sagt, der „sot“, das steht für ein erleichterndes Seufzen, wenn jemand mit seinem Text Fortschritte macht. Er weiß, dass die Kollegin sich schwertut. Neulich verbrachte sie eine ganze Schicht mit der Plettenberger Feuerwehr, zwölf lange Stunden. Aber es passierte nichts. Nun ringt sie nach Worten. Den Montag hat sie sich freigeschaufelt, um zu schreiben.
Draußen schwillt der Klang von Martinshörnern zu einem Getöse an. „Sind das deine Jungs vom Wall, Feli?“, fragt Stefan Aschauer. Der Chef steht auf, hält ein Ohr Richtung Tür und beantwortet die Frage gleich selbst. „Ja, sind sie, ich höre den schweren Diesel.“ Felicitas Hochstein ruft in der Wache an. „Könnte interessant sein, ein Rollstuhlfahrer ist in die Oestertalsperre gefallen.“ Als Felicitas Hochstein die steinerne Staumauer erreicht, spiegeln sich auf der anderen Seite des Sees Blaulichter im Wasser. Die Redakteurin nähert sich langsam, sie will die Rettung nicht behindern. Bei einem Polizisten erkundigt sie sich nach dem Einsatzleiter. Kurze Zeit später kommt ein Feuerwehrmann hinter einem der Krankenwagen hervor. Felicitas Hochstein muss lachen. Thomas Gritschke, den Wachabteilungsleiter, kennt sie schon von der langweiligen Schicht, über die sie eine Reportage schreiben muss. „Du hast dir neulich den falschen Tag ausgesucht“, sagt Gritschke, ehe er in kurzen Sätzen schildert, was passiert ist. Eine alte Dame im Rollstuhl kam mit einem Rad vom geteerten Weg ab, verlor die Balance und stürzte die Böschung ins Wasser herab. Die Begleiterin rief um Hilfe. Die Kellnerin eines Restaurants auf der anderen Seite hörte die Schreie, rief die Feuerwehr und rannte zur Unglücksstelle. Dort hatte ein Spaziergänger schon geholfen, die Rollstuhlfahrerin aus dem Wasser zu ziehen. Nun liegt sie in einem der beiden Krankenwagen, schwerverletzt. In dem anderen wird ihre Begleiterin versorgt – Schock.
Felicitas Hochstein macht Fotos und fährt zurück in die Redaktion. Nach ein paar Minuten hat sie die Bilder von der Unfallstelle auf ihrem Rechner hochgeladen. Stefan Aschauer sieht ihr über die Schulter. Da hat eine 90 Jahre alte Frau gerade etwas Fürchterliches erlebt, aber die Laune in der Redaktion steigt – Berufskrankheit. Die Fotos sind gut, die Geschichte auch. Felicitas Hochstein fängt sofort an zu schreiben. Ein Unglück! So was wollen die Leute lesen.
Dass die Menschen Zeitung lesen wollen, ist längst nicht mehr selbstverständlich. Auch beim Süderländer Tageblatt merken sie, dass sich etwas verändert. 26 000 Einwohner hat Plettenberg, eine Stadt, die sich über vier Täler verteilt. Die Auflage hält sich seit Jahren bei mehr als 5000 Exemplaren. Nur ganz selten bestellten mehr Leute die Zeitung ab, als Leser fortzogen oder wegstarben. Aber neue kommen kaum dazu. Die Jungen lesen lieber im Internet. Und es gibt Straßen in der Stadt, in der fast nur Russlanddeutsche oder Menschen mit türkischen Wurzeln leben. Und die gucken lieber russisches und türkisches Fernsehen als die Lokalzeitung zu abonnieren.
Stefan Aschauer spürt, dass sich auch die Haltung der Menschen zur Zeitung verändert hat. „Früher war sie allen ein Begleiter, und wenn wir in einem Kindergarten eine Geschichte gemacht haben, waren die Eltern stolz, wenn ihr Kind auf dem Foto war. Heute dürfen wir drei von 15 Kindern nicht fotografieren.“ Dass den Eltern die Persönlichkeitsrechte ihrer Kinder heilig sind, mag der Redakteur als Grund nicht so richtig gelten lassen. Im Internet entblößten sich die Leute ja ganz freiwillig. „Ich befürchte: Wenn Eltern ihre Kinder nicht mehr in der Zeitung sehen wollen, dann deshalb, weil sie einer Generation angehören, denen Zeitung nichts mehr wert ist.“
„Das Internet wirkt zersetzend, Lokaljournalismus dagegen ist gesellschaftlicher Kitt, weil er Meinungen steuert und wir uns nicht alles an Gehässigkeiten direkt um die Ohren hauen.“
Aschauer glaubt, dass das für die Zukunft der Gemeinde nichts Gutes verheißt. Er denkt da an dieses Paar, das letztes Jahr in der Silvesternacht nach Hause wollte. Sie hatten sich ein Taxi bestellt. Es war kalt, also warteten sie im Gasthof. Als das Taxi kam, stieg einfach jemand anderes ein. Der Fahrer konnte nicht wissen, dass er den falschen Gast beförderte. Die Frau war so wütend, dass sie noch nachts eine Tirade auf ihre Facebookseite schrieb. Was das denn für ein Taxiunternehmen sei! Als sie am Neujahrstag aufstand, hatte sich ein Shitstorm daraus entwickelt, ein Sturm der Entrüstung. Der Zeitungsmann kann sich über solche Anekdoten amüsieren. Er lacht oft und mit vollem Einsatz, dabei wirft er den Kopf nach hinten und biegt seinen Körper wie einen Flitzebogen. Aber eigentlich findet er das alles gar nicht lustig. „Das Internet wirkt zersetzend, Lokaljournalismus dagegen ist gesellschaftlicher Kitt, weil er Meinungen steuert und wir uns nicht alles an Gehässigkeiten direkt um die Ohren hauen.“
„Was habe ich davon, wenn ich die Wut am Kochen halte? Als Zeitung muss uns daran gelegen sein, dass Konflikte gelöst werden – und nicht, dass die Leute immer weiter stänkern.“
Die Taxigeschichte entwickelte in Plettenberg schnell eine lokale Brisanz. Die enttäuschte Frau befeuerte die Wut ihrer Mitleser auf Facebook, indem sie ihren Frust mit immer neuen Tiraden anreicherte. „Das Ganze drohte, für das Taxiunternehmen existenzgefährdend zu werden“, erzählt Aschauer. Pikant war, dass die Facebooknutzerin im Rathaus arbeitet. „Sie lebt von der Gewerbesteuer der Taxifirma!“ Aber warum griff er die Geschichte nicht auf? „Ich hatte meinen Kommentar schon fertig, aber bevor er in den Druck ging, sprachen sich unsere Recherchen bis ins Rathaus herum.“ Sofort erarbeitete der Bürgermeister eine Richtlinie, wie sich Mitarbeiter der Verwaltung zukünftig in sozialen Netzwerken verhalten sollen. Damit war das Thema für Aschauer erledigt. „Was habe ich davon, wenn ich die Wut am Kochen halte? Als Zeitung muss uns daran gelegen sein, dass Konflikte gelöst werden – und nicht, dass die Leute immer weiter stänkern.“
Trotzdem kann sich Stefan Aschauer in Themen verbeißen, diese Hartnäckigkeit hat ihn überhaupt erst zum Journalismus gebracht. Als Junge war er verrückt nach Zügen und der Eisenbahn. Mit 15 lebte er noch im Bergischen Land und entdeckte in der Zeitung einen Fehler in einem Artikel über Straßenbahnen. Er marschierte in die Redaktionsräume des Remscheider General-Anzeigers. „Da ist was falsch!“„Dann mach es besser!“, sagte der Redakteur, der den Beitrag geschrieben hatte. Aschauer wurde freier Mitarbeiter. Und nach dem Abitur Volontär. Die Eisenbahn ist immer ein Thema für ihn geblieben, auf schicksalhafte Weise. In der Nacht auf den 5. Dezember 1991 rissen ein Knall und Sirenengeheul die Menschen in Plettenberg aus dem Schlaf. Im Ortsteil Ohle war ein Güterzug auf Waggons geprallt, die auf dem Gleis gestanden hatten. Aschauer fuhr zur Unglücksstelle und hörte die Schreie des sterbenden Lokführers. Sie wurden immer leiser. Die Feuerwehr konnte ihm nicht helfen, weil sich bei der Bahn nachts niemand fand, der die herabhängende Stromleitung hätte erden können.
„Wenn nichts geschrieben wird, kann nichts besser werden. Einer muss ja.“
Seit diesem Erlebnis erklärt Aschauer jedes Zugunglück zum lokalen Thema. Er reiste sieben Mal ans Landgericht Traunstein in Bayern. Dort musste sich der Fahrdienstleiter von Bad Aibling verantworten, der im Dienst an seinem Smartphone gespielt hatte. Zwei Züge stießen zusammen, zwölf Menschen starben. In Bad Aibling, über 600 Kilometer von Plettenberg entfernt! Aschauer ist das egal. Er ist überzeugt, dass es Parallelen zwischen den Unglücksfällen in Plettenberg-Ohle und Bad Aibling gibt: ein bestimmtes Zugsignal, dessen leichtfertiger Einsatz zur Katastrophe führen kann. In Bad Aibling, in Plettenberg, in Hunderten Stellwerken überall in Deutschland könne das passieren. „Mir setzt der Journalismus zu sehr auf schnelle Ergebnisse. Vom Prozess in Traunstein blieb der Eindruck, dass nur der Fahrdienstleiter mit seiner Handyspielerei schuld ist. Aber das erklärt nur 80 Prozent des Unglücks.“ Es gibt, sagt Aschauer, Menschen im Eisenbahn-Bundesamt, die hinter vorgehaltener Hand erzählen, dass die Berichterstattung des Süderländer Tageblatts die beste über die Katastrophe von Bad Aibling sei. Viele Lokalseiten füllt Aschauer mit Analysen und Einschätzungen, bis heute. Weil er die Schreie des Lokführers, die er vor 26 Jahren hatte mit anhören müssen, nicht vergessen kann? Das auch, sagt er, aber eigentlich gehe es darum: „Wenn nichts geschrieben wird, kann nichts besser werden. Einer muss ja.“
Am nächsten Morgen, einem Dienstag, sitzt Stefan Aschauer wieder als Erster am Rechner und arbeitet an einer Geschichte, wieder geht es um die Eisenbahn, nichts für die Zeitung von morgen. Nach und nach treffen die Mitarbeiter ein. Als alle da sind, steht Aschauer auf und ruft wie ein Schausteller auf der Kirmes: „Immer wieder einsteigen! Immer wieder dabei sein!“ Zehn Seiten müssen für Mittwoch gefüllt werden. Jona geht den Themenspeicher durch, und die Kollegen sagen an, was sie im Block haben und welche Termine anstehen. Sebastian war im Hauptausschuss, aber aus der Sitzung hat sich nichts aufgedrängt. Marie-Christin will sich darum kümmern, ob ein Bus die Förderschüler nach Meinerzhagen bringt. Feli wird ihre Feuerwehrreportage heute fertig bekommen. Und Aschauer erwartet später ja noch den Herrn Wilmink mit seiner Geschichte über die Leipziger Bürgermeisterkette. Keine richtig heißen Eisen, aber das kann auch nicht jeden Tag klappen. Oft genug hat es schon hingehauen. Die Wand ist voll mit Urkunden für engagierten Lokaljournalismus. Manchmal muntert Aschauer seine Truppe mit einem Spruch auf: „Ihr wisst ja, ich bin so doof, dass mich die Schweine beißen.“ Das hat ihm mal ein Gastwirt mit auf den Weg gegeben. Lange her, der Mann ist schon tot, aber die Geschichte kostete Aschauer Nerven.
Er war damals neu beim Süderländer, zuständig für die Nachbargemeinde Herscheid. Dort gab es eine verfallende Gaststätte, das Neuenhaus. Viele Herscheider Honoratioren störten sich daran. Mieter mit fragwürdigem Ruf kamen und gingen; ein Bordellbetreiber war auch dabei. Im Hinterzimmer bereiteten Bürgermeister und Bauausschuss einen Beschluss vor: Die Gemeinde kauft das Neuenhaus und reißt es ab. Stefan Aschauer hörte davon, schrieb darüber. Zum Ärger eines Gastwirts, der darauf gehofft hatte, dass nie mehr ein Konkurrent in das alte Gebäude ziehen würde. „Der Aschauer ist so doof, dass ihn die Schweine beißen“, raunte er in einer öffentlichen Ratssitzung. „Soll ich den Weyland mal fragen, wie er heute darüber denkt?“, fragt der Lokalchef. Der Weyland, das war damals der Bürgermeister. Aschauer ruft den Redakteur, der heute für Herscheid zuständig ist. „Dirk, mach doch mal eine Geschichte, wie der Weyland das damals alles eingeschätzt hat.“ Lokaljournalisten müssen pragmatisch denken – die Seiten müssen ja voll werden.
In der Nacht ist Nebel aufgezogen im Sauerland, aber die Herbstsonne durchlöchert ihn. Das Neuenhaus glänzt in hellem Licht. Neben der Tür ist eine Denkmalplakette angebracht. In einer Straße oberhalb des Neuenhauses wohnt Wolfgang Weyland. Er ist ein großer Mann, streng sieht er aus. Im Ort nennen sie ihn Mr. Herscheid, weil er viele Ämter innehatte, Bürgermeister, Vorsitzender des Schützenvereins, Vorsitzender der CDU-Ortsgruppe. „Das mit dem Neuenhaus hat mich mächtig geärgert“, sagt Weyland. Aber das sei lange her, er wisse gar nicht, ob er die Geschichte noch zusammenbekomme. Aber je mehr Dirk Grein fragt, desto lebendiger werden Weylands Schilderungen. Nach Aschauers Berichten war damals kaum jemand im Ort noch für den Abriss des Neuenhauses. Ein Minister in Düsseldorf entschied, dass das Gebäude unter Denkmalschutz kommt. Die Wohnungsgesellschaft sanierte es und vermietet Wohnungen – bis heute.
„Ein guter Lokalreporter muss dahinter sein und rauskriegen, was los ist.“
In der Herscheider Gaststätte hatte Aschauer eine Zeit lang Hausverbot. Aber dann erschienen keine Berichte mehr über die Vereine im Ort, die dort tagten. Also hob der Wirt das Hausverbot auf, weigerte sich aber, Stefan Aschauer zu bedienen – bis der eines Tages seine eigene Coladose mitbrachte. Wolfgang Weyland muss lachen. „Ich hab ihn auch mal angerufen und ihm derbe die Meinung gesagt.“ Also laut? „Ja. Aber wir haben immer wieder das Wort gefunden. Ein guter Lokalreporter muss dahinter sein und rauskriegen, was los ist.“ Zurück in Plettenberg. Es ist zehn Uhr geworden, Rolf Wilmink kommt zu Besuch. Er ist Oberst in der Plettenberger Schützengesellschaft, wie es schon sein Vater war. Und er ist Detektiv, betreibt ein Sicherheitsunternehmen mit 75 Mitarbeitern. Vor ein paar Tagen bekam Stefan Aschauer eine E-Mail. Er hat sich bei Google News einen Alarm eingerichtet: Wenn Google eine Meldung erfasst, in der das Wort „Plettenberg“ vorkommt, wird Aschauer benachrichtigt. So erfuhr er, dass eine Leipziger Oberbürgermeisterkette aus der Nazizeit in den USA auf einer Internetseite zum Kauf angeboten wurde. In Sachsen sorgte das für viele Schlagzeilen. Und entdeckt hatte die Kette – Rolf Wilmink aus Plettenberg. Eine tolle Lokalgeschichte!
Stefan Aschauer führt seinen Gast in den Besprechungsraum der Redaktion. Auch „Milla“, Aschauers Frau Camilla Hundt, kommt dazu. Das macht sie oft, wenn eine Geschichte spannend zu werden verspricht. Sie muss nur eine Treppe runterkommen, das Paar wohnt über den Redaktionsräumen. „Was macht ein Detektiv nachts, wenn er nichts zu tun hat?“, setzt Stefan Aschauer an, als wolle er eine Scherzfrage stellen. Rolf Wilmink fällt ihm ins Wort. „Er findet alte Bürgermeisterketten!“ Und dann erzählt der Detektiv, über eine Stunde lang. Um Leipzig geht es schnell nicht mehr. Die Kette war ein Zufallsfund. Seit Jahrzehnten sucht Wilmink nach einer Fahne des Schützenvereins. Soldaten der 75. US-Division, die 1945, zum Ende des Zweiten Weltkrieges, das Sauerland besetzten, hatten sie als Souvenir mit nach Amerika genommen.Nun wird klar, warum Aschauer der Geschichte nicht am Telefon auf den Grund gehen wollte. Mit den Augen sollte der Detektiv reden. Und das tut Wilmink, seine Augen leuchten, seine Hände unterstreichen die vielen Anekdoten, die er auf Lager hat. Einmal ist er in die USA zu einem Veteranentreffen der 75. Division geflogen, um die Soldaten
von damals nach der Fahne zu fragen. Nie fand er eine heiße Spur. Aber er kam in Kontakt zu Militariahändlern, die Kriegsbeute im Internet feilbieten. Und deren Seiten durchsucht er, immer wieder, weil er hofft, die Fahne der Schützengesellschaft zu finden.
„1843 gefertigt und von Königin Elisabeth von Preußen gestiftet!“ „Wo ist denn der emotionale Antrieb bei der Sache, Herr Wilmink? Es ist ja am Ende nur eine Fahne!“, fragt Aschauer. Milla, seine Frau, knufft ihn in die Seite. „Mein Gott, irgendeine Schramme muss der Menschen doch haben!“„Genau“, sagt Wilmink, „ich hab auch schon von Leuten gehört, bei denen das die Eisenbahn ist.“ Stefan Aschauer lacht. Auch über den Scherz, mit dem der Detektiv ihn durchschaut hat, klar. Aber er kann sich diebisch freuen über das, was er da gerade geschafft hat. Im kleinen Besprechungsraum der Lokalzeitung, die sie in Plettenberg stolz Heimatzeitung nennen, hat er einen kleinen Funken aus der Weltgeschichte geschlagen. Und diesen Funken kann er weiter bearbeiten, damit seine Leser am nächsten Tag davon lesen können! Freundlich, aber rasch verabschiedet Aschauer seinen Gast, geht zurück an seinen Schreibtisch und fängt an zu schreiben. Heute muss er nicht. Heute darf er.
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