Unser Mann aus Syrien
von Carsten Beckmann
Wie kann man Bürgerkriegsflüchtlinge mit guter Bleibeperspektive in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren? Die Berichterstattung über entsprechende Bemühungen und Projekte zieht sich in den meisten Redaktionen vom Lokalteil bis ins Politikressort. Journalisten versuchen das Thema spätestens seit 2015 zu beleuchten – in der Regel allerdings mit der üblichen Distanz zur Zielgruppe, sprich: den Flüchtlingen.
Nachdem die Redaktion der Oberhessischen Presse im vergangenen Jahr vermehrt Anfragen bezüglich Praktika für Bürgerkriegsflüchtlinge erreicht hatten, entschieden wir uns dazu, einem der Bewerber ein vierwöchiges Praktikum zu ermöglichen: Haytham Abo Taleb.
Taleb wurde als Sohn palästinensischer Flüchtlinge in Al Jarmuk geboren – jenem Stadtteil der syrischen Hauptstadt Damaskus, in dem sich Assads Truppen, die IS-Terrormiliz und die Al-Nusra-Front nach 2012 so schwere Gefechte lieferten, dass von der knappen Million Einwohner mittlerweile nur noch rund 5.000 Menschen in Al Jarmuk leben – in prekären Verhältnissen, abgeschnitten von der Versorgung mit Lebensmitteln, ohne medizinische und soziale Unterstützung, dafür aber unter der radikalislamistischen Knute des IS.
Haytham Abo Taleb floh aus Al Jarmuk, als er zum Wehrdienst eingezogen werden sollte. In Algier studierte er Journalismus und arbeitete für Onlinemedien, bis er sich dazu entschloss, nach Deutschland zu gehen. Als anerkannter Asylbewerber durchlief der in Stadtallendorf bei Marburg lebende 26-Jährige einen mehrmonatigen Sprach- und Integrationskurs bei einer gemeinnützigen Beschäftigungsgesellschaft. Bestandteil dieses Kurses war jenes vierwöchige Praktikum, das wir Haytham Abo Taleb anboten.
Um dafür stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, musste allerdings ein Vertrag her – und den aufzusetzen, war bereits ein klein wenig komplizierter als im Regelfall. Wie oft die Beschäftigungsgesellschaft und das OP-Personalmanagement miteinander kommunizieren mussten, um sämtliche Bürokratieklippen zu umschiffen, ist mir nicht bekannt. Doch es wurde intensiv bis zum Bundesamt für Migration und Flüchtinge telefoniert, gemailt und gefaxt, bis nach einer Woche der Vertrag unterschriftsreif auf dem Tisch lag. Eine Mühe, die sich für alle Seiten auszahlt, weil sie Verbindlichkeit herstellt und etwa die Arbeitszeiten sowie das Ziel des Praktikums definiert.
Während deutsche Muttersprachler im Praktikum idealerweise im Redaktionsalltag relativ selbstständig mitschwimmen, muss bei Mitarbeitern aus völlig anderen Sprach- und Kulturräumen vor einem Praktikum festgelegt werden, wer sich individuell um sie kümmert. Unsere Erfahrung: Das geht nicht von Tag zu Tag auf Zuruf, sondern nur, wenn ein Kollege oder eine Kollegin den neuen Mitarbeiter über den gesamten Praktikumszeitraum hin intensiv betreut.
Sollen Praktikanten etwa aus dem arabischen Sprachraum für deutsche Printmedien publizieren, muss es jemanden in der Redaktion geben, der die Beiträge übersetzt – zur Not über den Umweg der englischen Sprache. Das erscheint kompliziert, kann aber durchaus Sinn ergeben: Kaum ein Auslandskorrespondent könnte noch dichter am Leben und Sterben in Al Jarmuk sein, als jemand, der dort aufwuchs und noch immer Verwandte vor Ort hat. Noch präziser als ein Asylbewerber in Deutschland kann kein noch so guter Lokaljournalist die Realität in Deutschkursen beschreiben.
Haytham Abo Taleb nutzte die gesamte Zeit seines Praktikums zur Recherche seiner Beiträge und redigierte unter Anleitung die Texte, bis sie die notwendige sprachliche Qualität hatten – geschätzte Nettospielzeit für die „Übersetzungsarbeit“: wöchentlich mindestens drei Stunden. Dazu kommt die Zeit, die man als Betreuer eines solchen Praktikums für Recherchehilfen aufwendet.
Von Anfang an muss also klar sein, ob sich eine Redaktion den „Luxus“ leisten will oder kann, einen Kollegen oder eine Kollegin für ein solches Praktikum abzustellen. Wer bei der Vergabe von Praktika eher auf den unmittelbaren personellen „Nutzen“ schielt, also für begrenzte Zeiträume billige oder gar unbezahlte Arbeitskräfte sucht, sollte sich bei Anfragen von Bewerbern wie Haytham Abo Taleb lieber zu einem klaren „Nein, leider nicht“ durchringen. Redaktionen, die jedoch bereit sind, ausreichend Zeit und Interesse aufzubringen, machen in der Zusammenarbeit mit fachlich vorqualifizierten Geflüchteten wertvolle Erfahrungen in punkto Integration und können Leserinnen und Lesern überdies interessanten Lesestoff aus dem Blickwinkel der Praktikanten bieten.
Checkliste
- Ausführliches Vorstellungsgespräch mit Bewerber/Bewerberin
- Ausfertigung eines speziellen Praktikumsvertrags unter Einbeziehung aller beteiligten Seiten
- Verbindliche Zuordnung des Praktikanten zu einem verantwortlichen Redakteur
- Täglich gemeinsame Zeiträume für Planung, Recherche und sprachliche Betreuung einplanen
- Klare Definition von Praktikumszielen
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