„Der Wahlkampf verlagert sich ins Virtuelle“
von Clemens Niedenthal
Norbert Kersting, Professor für Regional- und Kommunalpolitik an der Universität Münster, über die Bundestagswahl in Pandemie-Zeiten, über die wachsende politische Bedeutung von Nachbarschaften und die Herausforderungen für die lokale Berichterstattung.
Herr Professor Kersting, wo wir dieses Interview schon per Telefon führen, muss dieser Kalauer erlaubt sein: Wird sich ein relevanter Anteil der Menschen am 26. September eventuell verwählen oder haben sie das Gefühl, dass sich die Programmatik der einzelnen Parteien für alle Wahlberechtigten objektiv, transparent und niederschwellig erschließen lässt?
Nun, Wahlkampf ist schon auch immer Marketing. Und in der Werbung geht es ja nicht immer um die Wahrheit. Entscheidender scheint mir aber eine andere Frage: Worum geht es den Menschen bei der kommenden Wahl? Was wird das bestimmende, wahlentscheidende Thema? Die Landtagswahlen in diesem Frühjahr lieferten da ein überraschend klares Bild. Im Vorfeld war noch zu hören, dass etwa die Wohnungsnot oder die Migrationsdebatte das Wahlverhalten prägen könnten. Am Ende war klar: Die Leute haben für die Klimawende und mehr Nachhaltigkeit gestimmt.
Also heißt die Frage nur noch: Annalena Baerbock oder Robert Habeck?
So vorschnell will ich da keine Prognose abgeben. Covid und vor allem der Umgang mit der Pandemie wird die Bundestagswahl deutlicher prägen als dies bei den Landtags- und Kommunalwahlen sichtbar war. Dass aber SPD, FDP und die Unionsparteien nicht anders können, als die Grünen permanent als die große Spaßverderber-Partei zu markieren, zeigt schon, dass sie dem Momentum, das gerade für die Grünen spricht, wenig entgegenzusetzen haben.
Am Ende könnte dennoch die gegenwärtige Pandemie und nicht die künftige Klimakatastrophe die Bundestagswahl bestimmen?
Sagen wir es so: Wenn man eine Wahl damit gewinnen kann, sich in Gummistiefeln auf einen Deich im Oderbruch zu stellen und zu zeigen, wie man die Krise wuppt, dann heißt das umgekehrt eben auch, das schlechtes Krisenmanagement an der Wahlurne bestraft werden wird. Was wir gerade von der CDU gegenwärtig erleben, ist schlechtes Krisenmanagement und eine noch schlechtere Krisenkommunikation.
Sehen Sie in der Renaissance der Freien Wähler, in Bayern sind sie ja bereits eine Regierungspartei, deshalb eine Abkehr von der Bundespolitik und eine neue Bedeutsamkeit des Lokalen?
Es ist schon richtig, dass die Freien Wähler nicht nur historisch betrachtet aus dem Lokalen kommen. Entscheidender scheint mir aber etwas anderes: Die Freien Wähler holen in dieser tiefen Krise der parlamentarischen Demokratie jene Wählerinnen und Wähler ab, die nicht in der Apathie oder im Rechtspopulismus abtauchen. Sie sind die bürgerliche, biedere Doublette der konservativen Parteien.
Eigentlich wollen wir also gar keine Veränderung?
Positiv könnte man auch sagen, wir nehmen eine Wahl ernst. Klar gibt es Zyniker, wie sie sich aktuell etwa in der Querdenker-Bewegung sammeln und auch einen eher einstelligen Prozentsatz der Bevölkerung, die sich aus den gesellschaftspolitischen Diskursen verabschiedet hat. Deutschland wird aber auch bei dieser Bundestagswahl wieder eine exponentiell hohe Wahlbeteiligung haben, weit jenseits der 70 Prozent.
Also: Warum genau gehen wir wählen?
Anglo-amerikanische Politologinnen und Politologen attestierten uns Deutschen ja bereits in den 1970er-Jahren ein geradezu pietistisches Verhältnis zur Wahl. Es ginge uns, kurz gesagt, nicht um einen Gestaltungswillen, sondern um Pflichterfüllung. Was sich umgekehrt ja auch darin zeigt, dass das Interesse an direktdemokratischen Prozessen, an einer wirklichen Bürgerbeteiligung also, hierzulande lange nicht sonderlich ausgeprägt war. In diesem Land wurde das Politische immer gerne delegiert.
Die große Angst, oder zumindest der Vorbehalt, war dabei ja immer, dass direktdemokratische Prozesse zu extremeren Positionen führen könnten.
Ausgerechnet das erzkonservative Irland zumindest hat das Gegenteil bewiesen. Ein Abtreibungsgesetz und die Frage der gleichgeschlechtlichen Ehe wurden dort in einem per Zufallsprinzip zusammengesetzten Bürgerkomitee ausgehandelt. Und am Ende haben diese ganz normalen Menschen sogar gestandene Parlamentarierinnen und Parlamentarier zum Umdenken gebracht. Irland ist dadurch eine liberalere Gesellschaft geworden. Das buchstäbliche Totschlagargument, dürfte die Bevölkerung selbst entscheiden, würde sie die Todesstrafe wieder einführen, halte ich jedenfalls für unbegründet.
Sie sind, das zeigt ein Blick in Ihre Forschung, ohnehin ein großer Fan direktdemokratischer Prozesse.
80 Prozent aller Aufgaben werden kommunal erledigt. 80 aller Ausgaben kommunal gemacht. Und mittelfristig werden ganz zentrale gesellschaftliche Fragen sogar noch einmal lokaler verhandelt. Die großen Zukunftsthemen, so eine These von mir, werden künftig nicht nur kommunal, sondern sogar in den Nachbarschaften gelöst. Ich denke da etwa an die Migrationsdebatte oder Fragen der Pflege und einer alternden Gesellschaft. Hier brauchen wir Gremien, Bürgerräte etwa, die demokratische Prozesse lokal organisieren.
Früher hat man sich diesbezüglich im Orstverband „seiner“ Partei engagiert.
Das, was der Trendforscher Eike Wenzel einmal so treffend Wahlkampf-Folklore genannt hat, Stehtische in der Fußgängerzone, verschenke Kugelschreiber und Überzeugungsgespräche an der Haustür, das alles fällt diesmal ja eh pandemiebedingt aus. Hier hat Covid eine ohnehin absehbare Entwicklung beschleunigt. Der Wahlkampf, ganz generell die politische Meinungsbildung, verlagert sich zunehmend ins Virtuelle.
Wie sollte der Journalismus diesen veränderten Wahlkampf begleiten?
Ich sehe da zunächst einmal große Herausforderungen. Die politische Debatte ist vielschichtiger geworden. Die gesellschaftlichen Milieus sind nicht mehr so klar konturiert wie in Zeiten, als noch die Religionszugehörigkeit oder der Beruf darüber entschieden hat, wen man sein Leben lang wählen wird. Hinzu kommen die Sozialen Medien mit ihren alternativen Fakten, die die Zeitungen auch fortwährend bewerten und einordnen müssen. Für dieses Mehr an Fragen nimmt sich der Journalismus leider immer weniger Zeit.
Sehen Sie neue oder zumindest noch zu wenig genutzte journalistische Formate?
Um einmal den an meinem Institut entwickelten Wahl-Kompass ins Spiel zu bringen: Dieses Online-Tool hatte im Vorfeld der Kommunalwahlen in Köln mehr als 20.000 aktive Userinnen und User. Selbst wenn man da ganz spezifische Gesellschaftsgruppen, nehmen wir als Beispiel alleinerziehende Mütter, herausfiltern würde, wäre das immer noch eine durchaus repräsentative Datenlage, auf deren Basis man zentrale gesellschaftliche Fragen aufarbeiten könnte. Das müsste doch für jede Lokalredaktion ein Fest sein.
Ist das ein Appell für einen modernen Datenjournalismus?
Zumindest ist die Digitalisierung das große Zukunfsthema. Google oder Amazon stürzen sich auf alle Daten die sie in die Finger bekommen. Eine standhafte Demokratie muss da gewarnt sein. Genauso sollten wir aber die Digitalisierung auch für demokratische Prozesse nutzen. Solche Daten helfen, die Menschen besser zu verstehen. Stattdessen sagt mir ein leitender Redakteur einer überregionalen Tageszeitung, er wisse ja gar nicht, wie er solche Ergebnisse in der Zeitung aufarbeiten sollte.
Interview: Clemens Niedenthal
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