Vom Nichtwähler zum Wähler
von Antonia Eichenauer
Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen ist hoch, allerdings nur im Vergleich zu anderen Wahlen: Bei Europawahlen und Landtagswahlen ist sie beispielsweise noch schlechter. Doch das soll keine Ausrede sein. Denn auch wenn es das gute Recht jedes Bürgers ist, nicht zur Wahl zu gehen, steht die Repräsentativität der Wahl in Frage, wenn nur ein Teil der Menschen ihre Stimme abgibt.
Im Jahr 2013 lag die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl bei 71,5 Prozent (Quelle: Bundeswahlleiter, vorläufiges amtliches Ergebnis der Bundestagswahl 2013). Das war die zweitniedrigste Wahlbeteiligung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Die geringste Wahlbeteiligung wurde dabei im Wahlkreis 68 Harz mit knapp 60 Prozent verzeichnet. Mit fast 80 Prozent war die Wahlbeteiligung im Wahlkreis 79 Berlin-Steglitz – Zehlendorf am höchsten. Doch was ist mit den fast 30 Prozent, die 2013 insgesamt nicht zur Wahl gegangen sind? Warum haben sie sich der Wahl enthalten? Gehen sie 2017 wählen? Was hält sie ab? Auch größere Fragen kommen hinzu. Hat das Nicht-Wählen-Gehen Konsequenzen für die Demokratie? Wieso gibt es Nichtwähler-Hochburgen?
Interview mit Prof. Dr. Michael Kaeding
Warum ist das Thema Wahlbeteiligung so wichtig?
Das Thema ist vor allem deswegen so wichtig, weil wir wissen, dass eine ungleiche Wahlbeteiligung zu einer politischen Ungleichheit führt. Wahlbeteiligung ist kein Selbstzweck. Sie ist Indikator für das Funktionieren von Demokratie und Gesellschaft. Eine niedrige Wahlbeteiligung könnte uns in Zeiten zurückführen, in denen nur Privilegierte wählten.
Warum sprechen Sie sich für eine Wahlteilnahmepflicht aus?
In den vergangenen Jahren haben viele Stiftungen zu dem Thema Studien angefertigt. Sie haben viel Geld in die Hand genommen, um Lösungen zu finden, wie man Nichtwähler mobilisieren kann. Doch Vorschläge, wie etwa Wahlurnen in Supermärkten aufzustellen oder die Wahllokale länger zu öffnen, mobilisieren immer nur einen Teil der Nichtwähler. Aber die Gruppe der Nichtwähler ist ja keine homogene Gruppe. Lösungsvorschläge müssen daher die unterschiedlichen Typen von Nichtwählern berücksichtigen.
Ich positioniere mich daher in meiner Studie für eine Wahlteilnahmepflicht, auch wenn mir bewusst ist, dass diese in Deutschland sehr wahrscheinlich niemals eingeführt wird. Aber Politiker machen nun mal Politik für ihre Wähler, damit sie wiedergewählt werden. Die Programme sind also auf die Zur-Wahl-Gehenden ausgerichtet. Wenn diese eher wohlhabend und gebildet sind, wird auch nur für Bessergestellte und Gebildete Politik gemacht. Der Vorteil einer Wahlteilnahmepflicht – die übrigens nicht heißt, dass man unbedingt ein Kreuz für eine bestimmte Partei macht, man muss sich auch enthalten können – wäre, dass die Politik wieder die ganze Gesellschaft in den Blick nehmen muss. Studien aus vielen Ländern der Welt haben gezeigt, dass die Wahlteilnahmepflicht in der Lage ist, die soziale Verzerrung der Wahlbeteiligung zu nivellieren.
Nun, ich möchte auf keinen Fall die Leute mit einer Wahlteilnahmepflicht zur Wahl peitschen. Aber eine Teilnahmeverpflichtung an jeder Wahl würde letztendlich auch die wachsende Gruppe der jungen, arbeitslosen und schlechter gebildeten Nichtwähler erreichen.
Wo lässt sich gut zum Thema Wahlbeteiligung recherchieren?
Wahlbeteiligungsquoten lassen sich meist relativ einfach, auch auf kleinräumiger Ebene auf den Seiten der Länder, Städte und Wahlleiter finden. Darüber hinaus gibt es Seiten wie www.parties-and-elections.eu , die alle europäischen Wahlen zusammentragen. Oder die Voter Turnout Database von www.idea.int. Ein Medium, das von Wissenschaftlern dieses Spezialgebietes rege genutzt wird, ist Twitter. Hier finden die aktuellsten Diskussionen statt.
Welche Aufgabe kommt Lokalredakteuren in diesem Zusammenhang zu?
Gerade auf der lokalen Ebene haben wir zum Teil erhebliche Beteiligungsunterschiede festgestellt. Die Forschung behandelt Nationen oder Länder häufig als einheitliche Boxen. Auf der lokalen Ebene manifestieren sich die Unterschiede in der Wahlbeteiligung aber noch stärker. Sozial schwache Viertel in Städten weisen auch die geringsten Beteiligungsquoten auf.
Lokalredakteure haben einen Riesenvorteil. Ich glaube, dass sie im Idealfall ihre Region sehr gut kennen und in alle Stadtteile gehen – im Gegensatz zu den Politikern. Viele Lokalpolitiker gehen doch kaum mehr in alle Stadtteile, sondern nur dahin, wo grundsätzlich gewählt wird und die Menschen für ihre Partei stimmen. Sigmar Gabriel sagte mal, dass man wieder raus müsse, dahin, wo es stinkt. Genau das wünsche ich mir von Lokalredakteuren, dass sie in die Viertel gehen und Kontakte herstellen. Es ist wichtig, dass sie von da aus kommunizieren und Fragen stellen, wie etwa: Kommen Politiker hier vorbei? Findet hier Wahlkampf statt?
Das Fehlen der Politiker in manchen Vierteln auch im Wahlkampf führt dazu, dass die Menschen sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlen. Politiker zeigen in dieser Hinsicht weder Engagement, noch geben sie dafür Geld aus. Das macht dafür die AfD. Sie spricht gezielt diese abgehängten Gruppen an. Wenn sie die einzige Partei vor Ort sind, dann ist es auch kein Wunder, dass das Kreuzchen bei ihnen gemacht wird.
Diese Missstände aufzudecken, darüber zu berichten, zu zeigen, wie wichtig es ist, dass Politiker in alle Wahlkreise gehen, darin sehe ich die Aufgabe von Lokalredakteuren.
Gibt es etwas, worauf Lokalredakteure beim Thema Nichtwähler besonders Acht geben sollten?
Das Wichtigste ist, dass ihnen bewusst ist, dass es keine homogene Gruppe der Nichtwähler gibt. Zunächst gibt es Menschen, die nie wählen und solche, die mal wählen und mal nicht. Ich persönlich forsche in erster Linie zur Gruppe der Nichtwähler, die schon mehrmals nicht gewählt hat und zu einem großen Teil jung, meist arbeitslos und schlechter gebildet sind. Weil diese Menschen jung sind, wächst diese Gruppe der Nichtwähler stetig. Dadurch wird in Zukunft die soziale Schieflage der Wahlbeteiligung immer größer.
Darüber hinaus müssen Lokaljournalisten zwischen verschiedenen Motiven unterscheiden und sich fragen: Was sind die tatsächlichen Gründe für Nichtwähler der Wahl fernzubleiben? Faulheit oder politische Depression? Unterscheidbarkeit von Parteien? Protestverhalten?
Prof. Dr. Michael Kaeding
Jean-Monnet Professor für Europäische Integration und Europapolitik und Vorsitzender von TEPSA (Trans European Policy Studies Association); Autor bei regierungsforschung.de. Dort ist im Jahr 2015 eine Serie zur Wahlbeteiligung erschienen.
Mail: michael.kaeding@uni-due.de
Studien zum Thema Wahlbeteiligung
Pollytix: Motive und Einstellungen von Nichtwählern in Sachsen. Studie im Auftrag von Elephantologic – Agentur für Strategieberatung GmbH, September 2014.
- Die Studie ist frei im Netz unter pollytix.de verfügbar
- Aufbau / Methodik: Die Studie nimmt die Nichtwähler in Sachsen, in dem Bundesland also, in dem die Wahlbeteiligung zu Landtagswahlen traditionell besonders niedrig ist, unter die Lupe.
- These: Es gibt sechs Ursachen für die Nichtwahl:
- Trägheit
- fehlende Differenzierung
- Irrelevanz der Landesebene
- rationale Nichtwahl
- Überforderung
- Resignation
- Was das für die Zeitungen bedeutet: Laut der Studie sind die Bürger, denen es an Differenzierung fehlt, leicht zu mobilisieren. Eine einfache und klare Gegenüberstellung der Positionen in Bezug auf mehrere Themenfelder im Blatt kann diesen Menschen helfen.
- Kontakt: Jana Faus, Pollytix Strategic Research GmbH, Tel: +49(0)30 6098 565 22, Mail: faus@pollytix.de
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland – Ursachen und Lösungsvorschläge. Berlin, Januar 2015.
- Die Studie ist über bundestag.de abrufbar.
- Aufbau / Methodik: Die Ausarbeitung des Deutschen Bundestags fasst die Ergebnisse anderer Studien zu einem Gesamtbild zusammen. Neben den Erkenntnissen stellt sie Handlungsempfehlungen für verschiedene Akteure zusammen.
- Thesen: In dem Abschnitt „Empfehlungen zur Erhöhung der Wahlbereitschaft“ werden aus den vorgestellten Studien Handlungsempfehlungen abgeleitet. Diese lauten in der Kurzfassung:
- Politisierung insbesondere der sozial Schwächeren und Jüngeren in politisch prekären Stadtteilen.
- „Bürger interessieren sich für Politik, wenn die Politik sich für sie interessiert.“ (Vehrkamp et al. 2013)
- Klare Unterscheidbarkeit der Parteien.
- Generalisierten Politik(er)schelten und verächtlichen Kommentaren über Politik und Politiker entgegentreten.
- Den Stellenwert von Wahlen stärken.
Bertelsmann Stiftung: Politische Ungleichheit – Neue Schätzungen zeigen die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung. Einwurf Zukunft der Demokratie 2 / 2015. Gütersloh, 2013.
- Der Einwurf steht zum kostenlosen Download auf Bertelsmann-stiftung.de zur Verfügung.
- Aufbau / Methodik: In der Studie wird der Zusammenhang zwischen sozialem Milieu und Wahlbeteiligung hergestellt.
- These: Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass die sozial schwächeren Milieus im Wahlergebnis deutlich unterrepräsentiert sind. In eher konservativen Milieus ist das Pflichtgefühl größer, wählen zu müssen.
- Weiterlesen: Die Stiftung hat in einem weiteren Einwurf einen "8-Punkte-Plan zur Steigerung der Wahlbeteiligung" und eine Studie mit dem Titel "Prekäre Wahlen" herausgegeben.
- Kontakt: Prof. Dr. Robert Vehrkamp, Programm Zukunft der Demokratie Tel: +49 5241 81-81526, Mail: robert.vehrkamp@bertelsmann-stiftung.de
Forum Empirische Sozialforschung der Konrad Adenauer Stiftung: Dann bleib ich mal weg – Der Mythos der Partei der Nichtwähler. Sankt Augustin/Berlin, 2012.
„(...)Wähler (sind) potentielle Nichtwähler und Nichtwähler potentielle Wähler.“
- Die Studie ist auf kas.de zu finden.
- Aufbau: Die Forscher haben bekennende Nichtwähler der Wahlen aus den Jahren 2005 und 2009 erneut befragt.
- Thesen: Die Gruppe der Nichtwähler ist sehr heterogen. Bei den Motiven zur Wahl zu gehen oder nicht spielt die Wahlnorm, die Wahl als Bürgerpflicht, eine große Rolle. Schwache Einbindung in das politische Geschehen und das Gefühl, dass die eigene Stimme nichts ausrichten kann, sind Hauptmotive, nicht zur Wahl zu gehen. Drei Gruppen von Nichtwählern werden ausgemacht:
- politische Entfremdung
- konkrete Kritik an Parteien
- Zufriedenheit
- Kontakt: Dr. Viola Neu, Leiterin Team Empirische Sozialforschung, Tel: +49(0)-30-2 69 96 35 06, Mail: viola.neu@kas.de
Wo lassen sich mehr Informationen finden?
- In einem Gutachten für die Friedrich-Ebert-Stiftung beschreiben die Autoren anschaulich das soziodemografische Profil von Nichtwählern
- Das Statista Dossier Landtagswahlen in Deutschland 2016 bildet Statistiken und Umfrage ab, aus denen sich Trends für Bundestagswahlen ableiten lassen.
- Der Band "Nichtwähler in Europa, Deutschland und Nordrhein-Westfalen" bietet eine aktuelle Bestandsaufnahme der bestehenden Literatur zur sinkenden Wahlbeteiligung und richtet sich explizit auch an Journalisten
Kaeding, Michael; Haußner, Stefan; Pieper, Morten: Nichtwähler in Europa, Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Wiesbaden 2016.
Weitere Ansprechpartner
- Werner Peters, Ehrenvorsitzender der Partei der Nichtwähler, Mail: w.peters@parteidernichtwaehler.de, Web: www.parteidernichtwaehler.de/
- Kristina Weissenbach, Forschungskoordination Regierungsforschung.de, Tel.: +49 (0) 203/379 – 3742, Mail: kristina.weissenbach@uni-due.de, Web: www.regierungsforschung.de
- Dr. Armin Schäfer, Universität Osnabrück, Tel.: +49 541 969 4207, Mail: armin.schaefer@uni-osnabrueck.de, Web: www.armin-schaefer.de/
- Dr. Thorsten Faas, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Politikwissenschaft, Bereich „Empirische Politikforschung”; Tel.: +49-(0)6131-39-38466; Mail: thorsten.faas@uni-mainz.de; Web: http://www.thorstenfaas.de/
- Dr. Achim Goerres, Lehrstuhl für Empirische Politikwissenschaft, Universität Duisburg-Essen, Web: http://blogs.uni-due.de/wissenschaft-politik/
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